Geli -Geschichten

Geschichte vom kleinen Schutzengel

 

Erschöpft ließ sich der kleine Schutzengel in eine wind- und  regengeschützte Ecke des Wartehäuschens an der Bushaltestelle sinken, um einen kleinen Moment zu verschnaufen. Ob er sich  mit der Aufgabe,  persönlicher Beschützer zu werden, nicht vielleicht doch etwas übernommen hatte? Sein Schützling war aber auch ein wirklich schwieriger Fall und es gab keinen Tag, an dem er nicht für sie zum Einsatz kommen musste. Sie handelte nicht böswillig oder gar mutwillig, aber es fiel ihr immer wieder schwer, sich mit den sie betreffenden Umständen abzufinden oder sich  ihnen anzupassen. 
Sicher war ihre Art, die Welt zu sehen, durchaus hilfreich bei der seelischen Verarbeitung ihrer Krankheit. Mit Tatbeständen, die nicht zu ändern waren, wollte sie sich so wenig wie möglich belasten. Tun, was nötig ist, aber sonst nach Möglichkeit  alles die Krankheit Betreffende in eine der hintersten Ecken des Kopfes verstauen, um Platz für Wichtigeres zu haben. Wichtig war für sie alles, was ihr und vor allem auch allen anderen zeigte, was sie noch leisten konnte. Wichtig waren all die kleinen Begegnungen, Erlebnisse, Bilder und Gefühle die ihr zuteil wurden, denen sie im Laufe eines Tages begegnete. Wichtig war vor allem, trotz depressiver Krisen , Stunden und Tagen der Niedergeschlagenheit, der Verzweiflung und Einsamkeit, das positive Denken nie zu verlernen. Was nützte es ihr, ständig den Blick auf die schwarzen Wolken zu richten, die sich am Horizont ihres Lebensweges zusammenbrauten? Wie konnte sie wissen, ob diese sie je erreichen, oder ob unsichtbare Strömungen sie nicht in eine ganz andere Richtung treiben würden. Warum sollte sie sich durch die unberechenbaren Einfälle des Schicksals die noch immer mögliche Freude am Hier und Jetzt verderben lassen. Warum sollte sie die unzähligen kleinen greifbaren Freuden eines realen Tages aus dem Blick verlieren, nur um sich  Kopf und Seele mit zwar möglichen, aber völlig unberechenbaren Eventualitäten völlig sinnlos vollzustopfen .
So war es gut. Aber nur solange sie nicht vergaß, dass die Krankheit, mochte sie auch noch so weit nach hinten in ihrem Kopf verbannt sein, real vorhanden war. Und hier lag das eigentliche Problem, die Gefahr, in die sie sich selbst täglich brachte: Für sie existierte die Krankheit gar nicht mehr, sie war stolz darauf, sie einfach vergessen zu können. 
  Der kleine Schutzengel  hatte  inzwischen seinen Kopf auf die von seinen Armen umschlungenen  Knie
 sinken lassen  und  fühlte schon die wohltuende, tröstende Nähe des Schlafes, als eine zunehmende Unruhe um ihn her - kaum hörbar aber umso deutlicher zu fühlen- ihn plötzlich aufschrecken ließ.   
Er wusste sofort, dass etwas passiert war. Wie hatte er nur so pflichtvergessen sein können. Wo war sein Schützling? Oh nein, er hatte jämmerlich versagt. Sie war offenbar gestürzt und konnte sich nur mit Hilfe fremder Menschen mühsam auf den Beinen halten. Nie und nimmer hätte das geschehen dürfen! Sie vor dem Fallen zu bewahren war doch gerade seine vorrangige Aufgabe. Was sollte er nur tun? Während sich nun die Feuerwehr um seinen Schützling kümmerte,, stand der kleine Engel  immer noch bewegungslos im 
Wartehäuschen an der Bushaltestelle, wie gelähmt vom Bewusstsein seines eigenen Versagens.
 
Geli

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